Mittwoch, 23. Januar 2008

Zoom

Wenn man diese Zeilen finden wird, bin ich wahrscheinlich schon tot. Es bleibt mir lediglich, aufzuschreiben, wie es dazu kam, daß ich mich in diesem Brunnenschacht befinde, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Alles begann damit, daß ich vor drei Wochen hierher nach Spanien in das Haus meines Onkels kam, um mich alleine und abgeschieden vom Lärm und Streß Zuhause in Deutschland zu erholen. Neben dem üblichen Gepäck waren es vor allem mehrere Stapel Papier, mein Füllfederhalter und Fotos, die meinen Koffer beschwerten. Das Papier benötigte ich, um in den sechs Wochen, die ich hier verbringen wollte, an einer Fotoreportage zu arbeiten, die ich bereits in Deutschland vorbereitet hatte.
Das Haus meines Onkels befindet sich in einer Landschaft, die es lohnt, im Frühsommer genauer betrachtet zu werden. Einsam liegt das Haus auf einer Anhöhe. Mein Onkel hält sich dort nur im Winter auf, während der restlichen Zeit im Jahr vermietet er das Haus an Touristen oder gestreßte Nichten, die sich erholen wollen. Lediglich ein Nachbarhaus gibt es, das etwas tiefer liegt. Es wird von den Kipplings bewohnt, die sich schon vor vielen Jahren nach Spanien zurückgezogen hatten.
Nach meiner Ankunft vor drei Wochen tat ich erst einmal gar nichts. Ich schlief lange am Morgen, genoß die Ruhe, erfrischte mich im kühlen Naß des Pools hinter dem Haus und machte lange Spaziergänge am Nachmittag. Nichts brauchte ich zu besorgen. Mein Onkel hatte
dafür gesorgt, daß die Vorratskammer im Haus gefüllt war bis oben hin. So stellte ich es mir vor, daß man immer leben könnte. Ein kleines Schlaraffenland.
Der einzige Weg hinunter von der Anhöhe führt am Grundstück der Kipplings vorbei. Eingesäumt von einer hohen Hecke, deren duftende Blüten jeden Spaziergänger verzaubern, liegt das Haus ruhig da. Kein Laut dringt nach außen. Fast könnte man meinen, Dornröschen hielte dort ihren hundertjährigen Schlaf. Und doch gibt es Menschen hinter der Hecke.
Wenn ich im Arbeitszimmer meines Onkels an dessen Schreibtisch saß, konnte ich direkt in den Garten der Kipplings sehen. Dicht nebeneinander, im Halbschatten eines Baumes, standen zwei Liegestühle, in denen sich das Ehepaar den ganzen Tag aufhielt. Rechts und links davon standen zwei Beistelltischchen, auf denen sich Getränke, Zeitschriften und andere, nicht erkennbare Dinge befanden. Ab und zu beobachtete ich, daß Herr Kippling leere Flaschen gegen volle austauschte. Mehr jedoch war von dem Ehepaar nichts zu sehen, denn die Liegestühle standen mit der Rückseite zu mir.
Nach drei Tagen Faulenzerei begann ich damit, Notizen für meine Reportage zu machen. Den ganzen Nachmittag saß ich am Schreibtisch und arbeitete. Hin und wieder sah ich aus dem geöffneten Fenster und betrachtete die Landschaft vor mir. Unwillkürlich streifte mein Blick den Garten der Kipplings. Aber ebensogut hätte ich auch ein Foto betrachten können. Nichts geschah in diesem Garten. Die Liegestühle standen immer an der selben Stelle. Die Tische am selben Platz. Herr Kippling wechselte eine leere
Flasche gegen eine volle, und Mittags holte er ein Tablett mit Essen für sich und seine Frau heraus. Ich vermutete, daß Frau Kippling krank war, denn sie wurde morgens von ihrem Mann zum Liegestuhl getragen und abends wieder zurück ins Haus. Ich fragte mich, ob sie vielleicht querschnittsgelähmt war. Auf jeden Fall schien sie offensichtlich nicht in der Lage zu sein, sich selbständig fortzubewegen. Wenn Herr Kippling sie trug, bewegten sich ihre weißen, langen Haare sanft hin und her. Kippling selbst hat eine Glatze, die das helle Licht der Sonne reflektiert wie ein Spiegel.
Die Tage vergingen. Meine Haut wurde dunkler durch die regelmäßigen Spaziergänge, die ich unternahm, und der Stoß beschriebenen Papiers wurde zunehmend größer. Ich saß meistens bis zum Abend am Schreibtisch. Erst, wenn die Sonne am Horizont unterging, beendete ich meine Arbeit. Ich genoß es, zu beobachten, wie die runde, rote Scheibe langsam hinter den Bergen verschwand und wartete darauf, daß Herr Kippling seine Frau ins Haus trug. Ich fragte mich, was für ein Leben es ist, seine Tage im Liegestuhl verbringen zu müssen. Ich stellte es mir entsetzlich langweilig vor.
Vor zwei Tagen, als ich wieder den Sonnenuntergang betrachtete, war der Himmel besonders faszinierend gefärbt. Selbst am Meer hatte ich solch eine Farbpracht noch nicht erlebt. Ich holte meine Kamera, schraubte das neue Zoom daran und knipste die Sonne in all ihren Phasen des Untergangs. Als ich genügend Fotos geschossen hatte, hielt ich die Kamera noch eine Weile vor meinen Augen und betrachtete die Landschaft. Ich stellte wie soft fest, daß ich auf diese Weise einen ganz anderen Überblick hatte, denn das Zoom wirkte wie ein Fernglas. Ich richtete das Objektiv auf den Garten der Kipplings. Herr Kippling hatte gerade seine Frau hochgenommen, um sie ins Haus zu bringen. Wie ein Baby lag sie in seinem Arm, den Kopf hatte sie an seine Brust gelehnt, den rechten Arm über seine Schulter gelegt. Ihr Haar schimmerte rötlich in der untergehenden Sonne. Kippling sah in meine Richtung. Ich drückte auf den Auslöser der Kamera. Der Motor transportierte leise sirrend den Film Bild für Bild weiter. Dann drehte der Mann sich um und ging ins Haus.
Aus irgendeinem Grunde hatte ich den Auslöser nicht losgelassen. Während Kippling lief, rutschte der Arm seiner Frau nach unten. Seltsam schlaff bewegte er sich hin und her. Dornröschen schläft, dachte ich. Kippling war im Haus verschwunden und mein Film voll. Während ich ihn zurückspulte, betrachtete ich die Idylle vor mir. Die Sonne tauchte die Landschaft in ein violettes, unrealistisch wirkendes Farbbad.
Da mein Onkel von Beruf ebenfalls Fotograf ist, besitzt er im Keller eine Dunkelkammer. Nachdem ich zu Abend gegessen hatte, ging ich hinunter, um meinen Film zu entwickeln. Erst am nächsten Abend begann ich, Abzüge von den Negativen zu machen. Leider waren diese nur in schwarzweiß, denn ich fand kein Fotopapier für Farbfotos. Beim Betrachten der fertigen Aufnahmen wußte ich, daß sie in Farbe wahrscheinlich außergewöhnlich gut gelungen sein mußten. Auch die Fotos der Kipplings waren hervorragend geworden. Wie mit einem Daumenkino ließen sich die Bewegungen des Mannes mit seiner Frau im Arm nachvollziehen. Auf einem Foto blickte Herr Kippling direkt in die Kamera. Ich erinnerte mich, daß er kurz in meine Richtung gesehen hatte.
Ich nahm eine Lupe zur Hilfe, um sein Gesicht besser erkennen zu können. Ich hatte ihn noch nie aus der Nähe gesehen. Aber ich erkannte nicht viel mehr als vorher. Spaßeshalber vergrößerte ich die Aufnahme. Langsam wurde das Positiv dunkler. Vor mir erschien das Gesicht eines etwa Fünfzigjährigen mit einer Glatze. Offensichtlich befand sich kein einziges Haar mehr auf dem Kopf Kipplings. Der Mund stand offen und die Augen blickten geradewegs in meine Kamera. Er hatte mich wohl gesehen. Es war mir peinlich, denn vielleicht dachte er nun, daß ich ihn beobachte, womit er ja nicht unrecht hatte.
Ich vergrößerte das Bild noch einmal. Lange Zeit betrachtete ich es, bis mir klar wurde, daß der Blick und die ganze Mimik dieses Mannes einen erschrockenen, ja, fast entsetzten Ausdruck hatte. Irgend etwas an der Körperhaltung seiner Frau in seinen Armen erschien mir seltsam. Ich betrachtete noch einmal die anderen Fotos, auf denen die beiden zu sehen waren. Nach einer weiteren Stunde hatte ich alle Aufnahmen vergrößert. Ich legte sie in der richtigen Reihenfolge nebeneinander. Mit der Lupe betrachtete ich Frau Kippling. Auf dem Weg ins Haus war ihr Kopf leicht verrutscht. Ich konnte die eine Hälfte des Gesichtes sehen. Es hatte etwas seltsam Puppenhaftes an sich. Ich starrte auf das Gesicht und versuchte, irgend etwas Menschliches darin zu finden. Es gelang mir jedoch nicht. Ich fragte mich, was Herr Kippling da in seinem Arm trug.
Eine Puppe konnte das unmöglich sein. Ich verließ die Dunkelkammer und sagte mir: Du siehst Gespenster.
Irgendwie ließ mich die Angelegenheit nicht los. Plötzlich schwirrten mir die unmöglichsten Gedanken durch den Kopf. Wenn Herr Kippling tatsächlich eine Puppe im Arm gehalten hatte, was war dann mit seiner Frau geschehen? War sie tot? Warum war sie tot? Hatte er sie umgebracht? Oder war Herr Kippling ein Verrückter, dem es Spaß machte, den Tag mit einer Puppe im Liegestuhl zu verbringen? Meine Phantasie kannte nun keine Grenzen mehr. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu den Kipplings zurück. Sogar im Schlaf ließen sie mich nicht in Ruhe. Ich träumte die seltsamsten Dinge.
Am nächsten Morgen, das war heute, wachte ich wie gerädert auf. Mein erster Gedanke galt den Kipplings. Ich erfrischte mich im Pool hinter dem Haus. Dann frühstückte ich. Um endlich auf andere Gedanken zu kommen, packte ich Papier und Stift und meine Kamera ein und ging spazieren. Mein Weg führte mich vorbei am Grundstück der Kipplings. Die Blüten der Hecke am Haus dufteten betörend. Dahinter war es still. Mir war unheimlich zumute. Ich stieg den Weg zur alten Ruine hinauf, wo ich in den letzten Tagen schon öfter Ruhe und Muße zum Schreiben gefunden hatte. Vor allem hatte ich eine phantastische Aussicht bis hin zum Meer.
Auf halbem Wege schaute ich mich um. Unten an der Straße sah ich jemanden zur Ruine heraufkommen. Die Person hatte eindeutig eine Glatze, denn das Morgenlicht der Sonne glitzerte weiß darauf. Ich erschrak maßlos.
Mein Herz begann unruhig zu klopfen. Was hatte Herr Kippling dort zu suchen? Er müßte in seinem Garten sein, den er bisher nicht verlassen hatte, seit ich mich im Haus meines Onkels aufhielt.
Ich ging einen Schritt schneller. Der Weg war steil und anstrengend. Bei der Ruine angekommen ging mein Blick suchend über das verfallene Gelände. Ich sah, daß Kippling noch ungefähr hundert Meter entfernt war. Mich überfiel panische Angst. Vielleicht hat er seine Frau auch ausgestopft, dachte ich. Ich sprang hinter eine kleine Mauer und sah zum Weg, auf dem Kippling ging. Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Vorsichtig zog ich mich nach hinten zurück, den Blick starr nach vorn gerichtet. Plötzlich trat ich ins Leere und stürzte nach unten.
Ich weiß nicht, wie lange ich bewußtlos war. Es ist hell über mir. Es muß Mittag sein, denn die Sonne steht genau über dem Brunnenschacht, in den ich gestürzt bin. Es sind ungefähr drei Meter, die ich mit einem gebrochenen Bein überwinden muß, um wieder hier heraus zu kommen. Ich kann das Bein nicht bewegen. Es steht vom Knie abwärts merkwürdig schräg zum Oberschenkel. Ich bin nicht alleine. Neben mir liegt ein menschliches Skelett. Seinen Schädel ziert langes, schneeweißes Haar.

Samstag, 31. März 2007

Schwellenangst


Vor kurzem wurde ich durch eine kleine Zeitungsnotiz an ein Ereignis erinnert, das bereits mehr als zwanzig Jahre zurück liegt. Ein kleines Haus auf einem Hügel außerhalb meines Heimatdorfes sollte abgerissen werden. Seit mehr als fünfzig Jahren hatte das Haus leergestanden. Es war den Besitzern nie gelungen, einen Käufer dafür zu finden. Etwas Unheimliches haftete dem Haus an und jeder, der seinen Fuß über die Türschwelle setzte, hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, das Haus sofort wieder zu verlassen.

Am eigenen Leibe erfuhr ich dieses seltsame Phänomen, als ich im Alter von zwölf Jahren in unsere Dorfbande aufgenommen werden wollte. Die Aufnahmeprüfung bestand darin, eine Nacht lang alleine in dem Haus auf dem Hügel zu verbringen. Es wurde die schlimmste Nacht meiner Kindheit. Zusammengekauert, in eine Wolldecke gewickelt saß ich stundenlang im Eingang, denn weiter hatte ich mich überhaupt nicht vorgewagt. Es schien mir, als atme das Haus. Ein Atmen, das ich heute noch in manchen stillen Nächten hören kann. Vor allem die furchtbaren Schreie, die ich vernahm, machten mir Angst. Sie erinnerten an das Wehklagen von Menschen, die sich ganz in meiner Nähe aufzuhalten schienen. Ich selbst jammerte laut vor mich hin, um die Schreie übertönen zu können.
Zwei meiner Freunde wollten vor dem Haus Wache halten, damit ich mich nicht heimlich davon stehlen konnte. Beim ersten Sonnenstrahl kroch ich fast auf allen Vieren aus dem Haus. Meine Freunde waren nicht da. Ich war die ganze Zeit alleine an dem schrecklichen Ort gewesen.
Mein Ansehen in der Dorfjugend war schlagartig gestiegen. Ich wurde Anführer der Dorfbande. Allerdings brauchte ich erst einmal eine ganze Woche lang, um mich von jener Nacht zu erholen. Fieberkrämpfe und schlimme Träume suchten mich heim. Der Dorfarzt wußte keinen Rat und meine Eltern glaubten, ich müßte sterben. Niemand hatte ihnen von meinem Erlebnis erzählt, denn wer das tat, galt als Verräter. Auch ich schwieg.
Obwohl ich mich dem Haus bis auf eine Entfernung von fünfhundert Metern nicht mehr genähert hatte, ließ mich der Gedanke daran nie wirklich los. Ich glaubte, daß es ein schreckliches Geheimnis barg, dem noch niemand auf den Grund gekommen war. Als ich später die Dorfbewohner oder meine Eltern auf das Haus hin ansprach, erfuhr ich nicht viel darüber. Wer es gebaut und bewohnt hatte war in der Gemeinde nicht bekannt, weil die schriftlichen Unterlagen darüber im zweiten Weltkrieg vernichtet worden waren. Wenn ich nach Ereignissen in Bezug auf das Haus fragte, ich wußte, daß sich darin einmal zwei Wanderer erhängt hatten, so wollte niemand darüber reden. Man sagte nur: „Das Haus ist schon sehr alt. Vor dem haben wir uns auch schon als Kinder gefürchtet. Am besten ist, man läßt es in Ruhe.“ Alle sprachen davon wie von einem lebenden Wesen, was ich sehr gut nachvollziehen konnte, da ich sein Wesen in jener Nacht selbst kennengelernt hatte.
Die Zeit verging. Ich dachte schon lange nicht mehr an das Haus auf dem Hügel. In der nahegelegenen Stadt war ich seit einigen Semestern Student der Botanik und Zoologie. Käfer und Insekten waren mein Spezialgebiet und benötigten meine ganze Aufmerksamkeit. Ich befaßte mich gerade mit der Gattung der Hirschkäfer. Mir fiel ein, daß es außerhalb meines Dorfes im Spätsommer immer besonders große Exemplare dieser Art gegeben hatte.
Also begab ich mich mit den nötigen Instrumenten auf eine Exkursion. Ich war lange nicht mehr in den umliegenden Feldern und Wiesen des Dorfes gewesen. Die Stille der Landschaft wirkte beruhigend auf mich. Ich bewegte mich in einem Umkreis von einem halben Kilometer um das kleine Haus auf dem Hügel. Erinnerungen an meine Kindheit wurden wach, als ich es sah. Ich stellte mir vor, wie die heutigen Kinder darin eine Nacht verbrachten, laut jammernd, um die Schreie im Haus zu übertönen. Ich amüsierte mich über mein damaliges Verhalten. Wie leicht ist es doch, Kinder zu verängstigen, da sie noch nicht in der Lage sind, Gespenstergeschichten dem Ursprung einer zu blühenden Phantasie zuzuschreiben, dachte ich.
Innerhalb weniger Minuten färbte sich der Himmel plötzlich grau. Dunkle Wolken zogen heran. Ich sah das Unwetter direkt auf mich zukommen. Ohne zu überlegen rannte ich auf das kleine Haus zu. Die ersten, dicken Tropfen überfielen mich zweihundert Meter davor. Heftiger Wind zerrte an meiner Ledertasche. Völlig durchnäßt erreichte ich den Unterschlupf. Ich stürmte hinein und stand im Trockenen.
Alte Möbel standen herum, zum größten Teil schon verrottet. Holzwurm und Schimmelpilz hatten ihr Bestes gegeben. Auf seltsame Art empfand ich beinahe ein beruhigendes Gefühl, in dem Haus zu sein. Meine Angst von damals erschien mir nur noch lächerlich. Es hatte mich schon immer interessiert, wie das obere Geschoß aussah, deshalb stieg ich vorsichtig die morsche Treppe hinauf. Düsternis umfing mich. Ich tastete mich im Halbdunkel weiter. Oben angekommen, fiel mein Blick zuerst auf einen Türspalt, durch den ich in einen Raum hineinsehen konnte. Neugierig ging ich darauf zu. Draußen tobte mittlerweile ein Sturm, der wahrscheinlich Schlagzeilen machen würde. Das kleine Haus auf dem Hügel, das in mir stets nur Angst und Schrecken ausgelöst hatte, bot mir nun Schutz; ja ich empfand sogar eine gewisse Geborgenheit.
Ich betrat den Raum. Im gleißenden Licht eines Blitzes wurde das Zimmer für den Bruchteil einer Sekunde taghell erleuchtet. Augenblicklich erfaßte ich, was sich in dem Zimmer befand. Dem Blitz folgte ein ohrenbetäubender Donner. Ich war starr vor Schreck. Im selben Moment drehte ich mich auch schon um, rannte los und prallte gegen die Tür. Sie war verschlossen. Ich griff nach der Klinke, rüttelte daran, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Ich trommelte mit den Fäusten dagegen. Es war vergeblich. Fassungslos starrte ich auf das Holz, das als einziges im Haus nicht vom Holzwurm befallen zu sein schien. Ich sackte in mir zusammen wie damals, als ich jene Nacht unten im Eingang verbracht hatte. Vor meinen Augen erschien das Bild, das ich im Licht des Blitzes gesehen hatte.
Der Fußboden war übersät mit menschlichen Knochen. Angsterfüllt drehte ich mich um. Es war nicht dunkel im Zimmer. Ein winziges Fenster gab dem Raum etwas Licht, gerade so groß, daß ein Hund bequem hinaus‑ und hineingelangen konnte. Angewidert bewegte ich mich durch die vielen Knochen auf das Fenster zu, darauf bedacht, nicht auf die Gebeine zu treten. Durch das Fenster sah ich draußen im Tal den Sturm wüten. Ich drehte mich um.
Langsam wurde ich ruhiger. So ist das also, dachte ich. Wer sich nicht über den Eingang hinauswagt in dein Inneres, wird dich auch niemals betreten. Aber wer dir näher kommt, den lockst du bis hierher. Ist er einmal in der Falle, schnappt diese zu. Dein Opfer wird dich nie wieder verlassen können.
Jedes Donnern, das direkt über mir wie ein Peitschenschlag nieder ging, ließ mich zusammenzucken. Ich sagte mir: Dreh nicht durch. Dies hat nichts mit Geistern und Dämonen zu tun. Ich fragte mich, warum sich die Tür nicht öffnen ließ. Wahrscheinlich war der nach oben stehende Hebel auf der anderen Seite von selbst eingerastet, als die Tür zufiel. So saß ich in der Falle fest. Ich fragte mich, ob ich nun wie all die anderen elend verhungern müßte. Die Wahrscheinlichkeit, daß jemand kam, um mich zu retten, war so gering, wie vom Blitz erschlagen zu werden. Niemals hatte sich irgendwer, den ich kannte, so weit ins Haus vorgewagt, und die es doch getan hatten, waren darin umgekommen.
Ich überlegte, wie ich mich aus meiner mißlichen Lage befreien konnte. Das Einzige, was ich bei mir trug, war meine Ledertasche, in der sich drei tote Hirschkäfer befanden, sowie die kleinen Präparierinstrumente, die ich bei Exkursionen brauchte. Ich untersuchte die Geräte genau. Aber ich konnte damit nicht viel ausrichten. Das einzige, das halbwegs brauchbar war, war mein Taschenmesser. Zuerst dachte ich daran, die Holztür zu bearbeiten, aber ich fand keine Stelle, an der ich überhaupt richtig ansetzen konnte. Also entschied ich, mich mit dem Fenster zu beschäftigen. Draußen hatte sich der Sturm beruhigt.
Ich begann mit meinem kleinen Messer an dem Gemäuer herum zu stochern. Ich hatte Glück, denn das Haus war aus Sandstein gebaut wie man es hierzulande noch lange nach der Jahrhundertwende getan hatte. Es war eine mühsame Arbeit, die wahrscheinlich tagelang dauern würde. Ich hatte Hunger und vor allem Durst. Als es bereits dunkel war, arbeitete ich im Licht des Mondes weiter. Irgendwann in der Nacht begann ein Geräusch meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ich wußte, daß ich es schon einmal gehört hatte; damals als Kind unten im Eingang. Es war das Atmen des Hauses. Doch als ich es jetzt hörte, klang es schwer und laut. Und dann setzten die Schreie ein, die ich damals durch mein eigenes Wimmern versucht hatte zu übertönen. Diesmal schrie ich selbst, denn das Wehklagen war näher als früher. Ich wußte, es kam aus diesem Raum selbst. Ich hielt mir die Ohren zu und kauerte mich unter dem Fenster zusammen. So verharrte ich die restliche Nacht, bis es dämmerte. Erschöpft schlief ich irgendwann ein.
Als ich erwachte, begann ich sofort fieberhaft mit der Bearbeitung des Fensters. Mehrmals schnitt ich mich dabei. An meiner rechten Hand bildeten sich Blasen, und ich mußte die linke nehmen. Meine größte Sorge bestand darin, daß mir das Messer abrutschen könnte und nach draußen in die Tiefe fiel. Immer öfter mußte ich eine Pause machen, weil meine Kräfte nachließen. Dann lag ich auf dem Boden und betrachtete die vielen Knochen vor mir. Ich versuchte anhand meiner rudimentären Anatomiekenntnisse die einzelnen Knochen zusammenzufügen, um festzustellen, wieviel Menschen hier bereits ihr Leben hatten lassen müssen. Ich gab es schließlich auf, da stets Knochen übrigblieben.
Ich entdeckte, daß ich nicht das einzige Lebewesen in diesem Zimmer war. Dicke Wanzen huschten über den Boden. Mein Magen knurrte laut. Wieder kam eine Nacht, in der ich nicht schlafen konnte, weil die unerträglichen Schreie zurückkamen, um mich zu quälen. Diesmal schrie ich nicht, sondern sagte: „Du bekommst mich nicht.“ Damit meinte ich das Haus, von dem ich mittlerweile glaubte, daß es von Eindringlingen seinen Tribut forderte.
Der nächste Morgen brachte Regen. Ich hatte seit zwei Tagen nichts getrunken. Geistesgegenwärtig hielt ich mein Unterhemd aus dem Fenster, bis es durchtränkt war von Regenwasser. Gierig saugte ich daran, um meinem Körper die lang entbehrte Flüssigkeit zuzuführen. Dann machte ich mich daran, Wanzen zu fangen. Sie waren die einzige Nahrungsquelle, die mir zur Verfügung stand. Es kostete mich einige Überwindung, das Getier in den Mund zu stecken. Es knirschte unangenehm zwischen den Zähnen, als ich darauf biß. Ich mußte mich zusammenreißen, meine Mahlzeit nicht gleich wieder auszuspucken. Doch meine Vernunft sagte mir, daß ich nur so überleben konnte, bis ich mir selbst oder jemand anderes hier heraus helfen konnte.
Mit meinem Messer hatte ich noch nicht viel an der Fensteröffnung verbreitert. Wenige Zentimeter nur waren es. Ich fragte mich, wie lange ich mich wohl von Käfern und Regenwasser ernähren mußte. Am schlimmsten waren die Schwindelanfälle, die mich plötzlich überfielen. Meine Hände waren voller Blasen und Schnittwunden. Aber ich ließ nicht von meinem Tun ab, immer wieder das Messer in den Stein zu bohren.
Am vierten Tag endlich hatte ich die Fensteröffnung so weit vergrößert, daß ich meinen Oberkörper hinauslehnen konnte. Aber mit den Hüften blieb ich in der Öffnung hängen. Ich mußte mindestens noch zwei weitere Tage damit verbringen, den Stein abzutragen. Ich machte mich wieder auf die Jagd nach Wanzen. In der Zwischenzeit waren auch die drei Hirschkäfer in meinem Magen gelandet. Und dann passierte es. Das, wovor ich mich so gefürchtet hatte. Beim Bearbeiten des Fensters rutschte ich mit dem Messer ab. Ich schnitt mir so tief dabei in die Hand, daß ich es fallen ließ. Lautlos fiel es in die Tiefe. Ich dachte, jetzt ist alles aus. Wütend richtete ich mich auf und begann das Haus zu verfluchen. Ich schrie so laut, daß ich vor meiner eigenen Stimme erschrak.
Voller Verzweiflung trat ich immer wieder mit dem Fuß gegen das Gemäuer. Mit lautem Getöse brachen einige Steine heraus und fielen nach unten. Verblüfft starrte ich auf die Öffnung. Sie bot mir genügend Platz, aus dem Fenster zu gelangen. Unter mir befand sich ein Abgrund von mehreren Metern. Ich wußte, daß ich mir beim Aufprall sämtliche Knochen brechen konnte. Ich ließ mich einfach fallen. Erschöpft blieb ich liegen. Dann wurde ich bewußtlos.
Als ich aufwachte, lag ich in einem Bett. Meine Hände waren mit Mull verbunden. Neben mir saß meine Mutter. Sie lächelte. Ich bin entkommen, dachte ich nur.
Kinder hatten mich gefunden. Ich hatte recht mit meiner Vermutung, daß die Tür von selbst zugeschlagen war. Aber die Knochen, die ich erwähnte, waren nirgends zu finden gewesen. Statt dessen lagen auf dem Fußboden des Zimmers zahlreiche, vom Holzwurm zerfressene Balken, die tatsächlich Ähnlichkeit mit menschlichen Knochen hatten. Die Geräusche des Hauses, das Atmen und die Schreie schrieb man meiner Angst zu. Wer vier Tage und drei Nächte lang in einem Zimmer eingesperrt sei ohne Nahrung und Wasser, neige dazu, halluzinogene Wahnvorstellungen zu entwickeln.
Ich selbst aber glaubte daran, daß ich die Erscheinungen im Haus tatsächlich gesehen und gehört hatte. Wochenlang versuchte ich, jeden davon zu überzeugen, daß ich nicht Opfer meiner Angst gewesen war. Ich wurde aus der Klinik entlassen mit dem Rat, so bald wie möglich einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Vernunftgemäß gab ich den Ärzten recht, daß dies nötig war. In meinem tiefsten Innern aber war der Gedanke fest verwurzelt, daß das Haus lebte.
Es kam der Tag, an dem das Haus abgerissen werden sollte. Ich ließ es mir nicht nehmen, als Zuschauer daran teilzuhaben. Aufgeregt wie ein kleiner Junge und mit einer gewissen Genugtuung erwartete ich die Zerstörung des Ungeheuers, das mich beinahe umgebracht hatte. Wie in Zeitlupe bewegte sich die riesige Eisenkugel des Baggers auf das kleine Zimmer zu, in dem ich gefangen gewesen war. Die Wand mit dem von mir vergrößerten Fenster brach in sich zusammen. Es war, als träfe mich selbst die Kugel mit ihrer ganzen Wucht. Ein zweites Mal schlug sie zu. Die Wand fiel. Für einen Sekundenbruchteil blieb die Zeit stehen. Dann folgte ein Geschrei und Wehen, wie ich es in jenen Nächten vor langer Zeit vernommen hatte. Ich drehte mich um und rannte den kleinen Hügel hinunter immer weiter ohne anzuhalten. Ich hielt mir die Ohren zu, aber die Schreie verfolgten mich bis in den hintersten Winkel meiner Seele. Ich stolperte, raffte mich auf, stolperte wieder, bis ich nicht mehr in der Lage war, mich zu bewegen.

Die Schreie höre ich immer noch. Sie verfolgen mich überall hin. Sogar bis in diesen Raum, in den man mich eingesperrt hat. Manchmal versuche ich, mit ihm zu reden, aber das Haus existiert nicht mehr. Man hat es zerstört. Früher, als seine Mauern noch standen, da hätte es mir vielleicht geantwortet. Doch ich habe es nie nach seinem Schmerz gefragt. Nun bleibt mir keine andere Möglichkeit, als das Schreien zu übertönen, indem ich selbst schreie. Niemand ist da, um mich zu hören, denn mein Schreien schlägt jeden in die Flucht. Etwas Unheimliches scheint mir anzuhaften und jeder, der auch nur einen Fuß über meine Türschwelle setzt, hat das unwiderstehliche Bedürfnis, mich sofort wieder zu verlassen.

Montag, 12. März 2007

Element der Gesamtmenge




Es gibt Tage, an denen sie die Welt auf eine seltsame Art anders wahrnimmt als sonst. Es beginnt oft damit, daß sie morgens aufwacht und die Sonne das Schlafzimmer mit einem Licht erfüllt, das sie beinahe zu hören glaubt. Unfähig, sich auch nur eine Minute länger im Bett aufzuhalten, wirft sie die Decke zurück und schlüpft in den Bademantel.

Noch während sie in der Küche den Kaffee zubereitet, ist ihr Kopf voll mit jenen Dingen, die sie an diesem Tag erledigen will. Ihre Energien ballen sich zusammen wie Gewitterwolken am Himmel, die sich entladen wollen. Sie holt Papier und einen Stift, legt diese bereit, damit sie sofort damit beginnen kann, gegen die Leere der Blätter anzukämpfen.

Die Sonne hat sie in die Küche begleitet. Mit all ihrer Energie wirft sie ihre Strahlen auf jeden einzelnen Gegenstand, der sich in ihrer Nähe befindet. Es geht ein leises Klirren wie von Scherben umher, das bei der Berührung der Dinge entsteht und gleich wieder verklingt. Strahlend weiß liegt das Papier vor ihr. Sie kneift die Augen zusammen, damit sie nicht geblendet wird. Dann beginnt sie, ihre eigene Energie zur Sonne hinzuzufügen.

Schnell entstehen kleine Schriftzeichen auf dem ersten Blatt. Sie reihen sich aneinander wie Perlen auf einer Kette. Sie laufen umher, bis ihr Platz feststeht. Und wieder einer und noch einer. Hunderte sind es bald. Sie marschieren voran wie eine kleine Armee. Die Armee wird zum Heer, das unaufhaltsam nur dem einen Ziel entgegen stampft, nämlich das Ende zu erreichen. Im Gleichschritt, marsch! ruft der erste Buchstabe dem letzten zu, doch dieser kann ihn nicht mehr hören, denn der Abstand zwischen ihm und dem ersten ist bereits zu groß. Wenn sie genau hinhorcht, kann sie hören, was für ein Durcheinander auf dem Papier herrscht. Da staunen aas und oos, da klingen iis wie helle Glöckchen, rrs knarren umher, so daß die ts erzittern und die eis kreischend schneller laufen. Sie wissen nicht, wohin ihre Feder sie führen wird, denn sie selbst weiß es noch nicht. Der Drang zu schreiben wächst ins Unermeßliche. Jede Störung wird abgeblockt von ihr, die sich nur noch fühlt wie eine Quelle, aus der die Worte heraus sprudeln wie Wasser.

Die Quelle wird zum Bach, der Bach zum Fluß und der Fluß zum Wasserfall, der sich in einen unendlich großen See ergießt. Die Quelle ist sie. Der See ist das Papier. Die Buchstaben sind die unzähligen Wassertropfen, die den See zu dem machen, was er ist. Ist der See einmal erreicht, gibt es kein Zurück mehr. Das Gedränge ist groß, doch jeder Tropfen findet seinen Platz und kann nur mehr in der Gesamtheit existieren.

Ebenso wie den kleinen Tropfen ergeht es den Buchstaben auf Ihrem Papier. Die nachfolgenden schieben die vorderen, und die vorderen drücken die nachfolgenden. Doch jedes kleinste Zeichen ist wichtig. Keines wird übersehen, denn nur im Zusammenhang mit allen anderen ergeben sie einen Sinn. Welche Macht ihr selbst dabei obliegt, ist nur von denen zu begreifen, die selbst den Klang der Sonnenstrahlen erfahren. Nur sie entscheidet, welcher Buchstabe erhalten bleibt oder durch einen kleinen, unscheinbaren, jedoch alles entscheidenden Querstrich für immer verstummt. Die Sonne und sie haben eines gemeinsam. Die Sonne schickt ihre weißen Strahlen hinunter, so daß sie allein entscheidet, welcher Tropfen den Schutz der Masse erreichen darf. Sie trifft die Entscheidung, wann sie den Querstrich einsetzt.

Die Sonne hat sich ganz plötzlich hinter den Wolken versteckt. Und ebenso plötzlich stoppt das kleine Buchstabenheer. Nur für einen Moment wird es so still, so daß die Stille hörbar knistert wie Papier. Ihre Macht ist grenzenlos. Auf dem Papier ist sie Königin. Doch was ist mit all denen, die ebenfalls im Glanz der Sonne Macht über das Wort ergreifen? Sind sie nicht alle, ebenso wie sie, nur ein winziger Teil dessen, was zusammengefügt die Gesamtmenge ergibt? Darf sie sich Teilmenge der Gesamtmenge nennen? Gehört sie schon zur Teilmenge oder muß sie sagen: Ich bin nicht Teilmenge. Was bin ich dann, fragt sie sich. Ich bin Element der Gesamtmenge, denkt sie. Ich bin die Gesamtmenge, sagt die Sonne.
Auf dem Papier vor ihr entsteht ein Aufruhr. Die Buchstaben eilen voran. Sie beginnen zu laufen, zu rennen, ja - sie fliegen fast, sie wollen ihr Ziel endlich erreichen. Sie rufen etwas. Sie denkt: Ich muß es verstehen. Ganz klar und deutlich kann sie es nun hören. „Du!“ rufen sie. „Du!“

Sie haben recht, diese kleinen, so unscheinbaren Zeichen, die in geballter Form der Energie der Sonne gleich sind, denkt sie. Manchmal, während sie das Weiße des Papiers mit schwarzer Tinte bedeckt, hört sie ein leises Klirren neben sich. Schaut sie sich um, so sieht sie nur die hellen Sonnenstrahlen, die von der Sonne selbst zu ihr geschickt worden sind.